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Von Khinkalibergen und Bergsteigerhunden: Skitouren im Kaukasus

  • Silvan Metz
  • Ski
  • Team

Text & Fotos: Silvan Metz

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Leichter Wind weht den Staub über den erdigen Weg, den man als Hauptstraße von Ushguli bezeichnen könnte. Die Soldaten wirken irgendwie grimmig, oder ist es nur die hochstehende Sonne, die finstere Schatten über die Augenhöhlen legt? Es ist Ende April, tief in der Nebensaison, kaum ein Tourist oder Skifahrer findet um diese Zeit den Weg hierher. Und so wirkt das Dörfchen wie ausgestorben. Es liegt schon lange kein Schnee mehr im Talgrund, stattdessen suchen sich zaghaft erste grüne Grashalme den Weg ans Licht. Umso deplatzierter wirken wir vier, die wir hier in bunten Skiklamotten und einem großen dubiosen Skisack in der Steppe stehen. Keiner der Soldaten kann ein Wort Englisch, mit Händen und Füßen wurden unsere Pässe eingefordert, mit denen einer der Soldaten in die kleine Hütte verschwunden ist. Die anderen beäugen uns etwas argwöhnisch.

Nach einiger Zeit rumpelt ein verbeulter, armeegrüner Jeep die Schotterpiste entlang und stoppt in einer Staubwolke neben uns. Vom Beifahrersitz steigt ein noch grimmiger aussehender Soldat mit Stiernacken, an dem die mit vielen Sternen gezierten Schulterstücke ansetzen. Scheinbar der ranghöchste Offizier. Mit bellenden Befehlston erkundigt er sich offensichtlich, was hier vor sich geht. Sein Fahrer kann etwas Englisch und fragt uns, was wir hier wollen. Skifahen, natürlich. Aber es sei doch kein Schnee mehr da. Ja, aber wir wollen an die etwas höheren Gipfel. Aber wohl nicht über die Grenze? Nein, nicht über die Grenze. Er wirkt noch nicht so überzeugt. Ob wir denn schon wüssten, wo wir hier Quartier beziehen wollen. Das wissen wir in der Tat noch nicht. Wir nennen vorsichtig das Guesthouse Angelina, das uns eine ausgewanderte Deutschlehrerin in Mestia empfohlen hatte. Schlagartig hellt sich seine Miene auf. „Angelina – My Daughter. Guesthouse – My House!“, erklärt er uns, diesmal ohne Übesetzer. Zwei, drei Kommandos später sind wir auf dem Weg ins Guesthouse. Während uns die Soldaten unser Gepäck hinterher schleppen.

Wir haben zweieinhalb Tage gebraucht, um hierher zu kommen. Nach dem Flug von München nach Tbilisi folgte eine lange Reise mit den Marshrutkas, den abenteuerlichen öffentlichen Verkehrsmitteln in diesem Teil der Welt: In Kleinbusse, die bei uns schon lange keinen TÜV mehr bekommen würden, wird eine haarsträubende Anzahl Sitzplätze verbaut (unser Rekord: 26 Sitze in einem langen Sprinter!) und damit dann zu einem Spottpreis in einer noch haarsträubender Fahrweise über Straßen geheizt, in deren Schlaglöchern ganze Kleinwagen verschwinden könnten. Das I-Tüpfelchen dabei ist aber, dass die Marshrutkafahrer in den abgelegenen Kaukasustälern das Postsystem ersetzen und als Dankeschön für jede Lieferung einen Schnaps bekommen. So hatte manch einer unserer Fahrer schon sichtbare Probleme, ohne Hilfe zu seinem Abenteuergefährt zurückzuwanken.

In Mestia treffen wir eine zumindest zeitweise ausgewanderte Deutsche, die hier an den Schulen unterrichtet. Beim Abendessen erfahren wir von ihr alles Wissenswerte über die örtlichen Gepflogenheiten: Mit Bier stößt man hier nur unter Feinden an, Anschnallen gilt als Vertrauensbruch und Beleidigung dem Fahrer gegenüber und, ganz wichtig, das Essen! Das Nationalgericht sind Khinkali, Hackfleischgefüllte Teigtaschen, die so gut sind, dass man bergeweise verschlingen kann. Auch alles andere Essen kann nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ sehr überzeugen.

Entsprechend gestärkt sind wir, als wir am dritten Tag endlich zu einer Erkundungstour über Ushguli aufbrechen können. Endlich Bewegung! Was für ein Kontrast, die Ruhe der kaukasischen Berge im Vergleich mit dem hektischen Gedränge an den georgischen Straßen. Im gleichmäßigen Rhythmus gleiten die Felle durch den aufgeweichten Sulz, doch abgesehen von dem meditativen Schlürfgeräusch und gelegentlichen Knarzen der Skischuhe ist es absolut still. Mit jedem Schritt weitet sich der Horizont, bis sich am Gipfel endlich die beeindruckende, ja einschüchternde Mauer des Shkara über uns auftürmt. Dreitausend Meter hoch ist sie, die Südwand des Fünftausenders. Eine beeindruckende Kumulierung aus brüchigen Fels, glänzendem Firn und hochhaushohen Séracs. Ungefähr so, als hätte die Monte Rosa Ostwand ein paar mehr Fruchtzwerge gegessen.

Auch wenn der Hauptkamm uns ablenkt: Eigentlich wollen wir die Aussicht nicht nur zum sabbernden Bestaunen der Urzeitgiganten nutzen, sondern vor allem die Umgebung erkunden und Ziele beratschlagen. Denn Karten gibt es fast keine, zumindest nicht vor Ort, und die, die es gibt, entsprechen bei Weitem nicht unseren AV-Karten verwöhnten Luxusansprüchen. Unter der Shkara-Südwand gibt es den wuchtigen, rundlichen Karetta, der durch seine Topografie bestes Skigelände verspricht. Zugegeben, das hebt ihn nicht wirklich von den anderen Bergen in dieser Gegend ab. Trotzdem beschließen wir, ihm am nächsten Tag einen Besuch abzustatten.

Mittlerweile ist es fast Abend, doch wir haben keinen Zeitdruck: Das Wetter ist perfekt, keine Wolke am tiefblauen Himmelszelt, und die Lawinengefahr steigt jetzt sowieso nicht mehr an. Also warten wir auf den Sonnenuntergang, sodass ich mich bei der Abfahrt fotografisch austoben darf: Im perfekten, goldenen Licht des Abends zeichnen wir unsere geschwungenen Linien in den sanftweichen Schnee. Bis wir im Dörfchen ankommen hat sich die Speicherkarte gut gefüllt.

Am nächsten Morgen schnallen wir die Ski an die Rucksäcke und marschieren das Engurital hinauf. Nach einer guten Stunde finden wir genug Schnee und können auf Ski wechseln. Unsere Route führt durch ein gigantisches Kar, dessen Seitenmoränen größer sind als manch ein Alpenberg. Über diese riesigen Hänge steigen wir unkompliziert Richtung Gipfel.

Ich weiß nicht, ob man Stille hören kann. Ich weiß auch nicht, ob es in den hintersten Winkeln des Kaukasus stiller ist als auf einer Skitour in den Alpen. Vielleicht wirkt das nur so, weil man die Abgelegenheit viel eindrücklicher spürt. Weit weg sind wir hier, der Natur ausgeliefert. Wie um das zu unterstreichen ragt der Shkara steil und eisgepanzert direkt über uns bedrohlich hoch in den Himmel auf. Immer noch trennen uns 1700 Höhenmeter zu diesem höchsten Gipfel Georgiens, und so fühlen wir uns auf dem immerhin 3521 Meter hohen Karetta, als hätten wir einen grasigen Voralpenhügel erklommen.

Obwohl wir schon den höchsten Punkt der Tour erreicht haben, liegt das meiste noch vor uns: Wir wollen den Gratkamm mehrere Kilometer bis zu einem Gipfel über Ushguli überschreiten. Wir sind nicht akklimatisiert, und so werden wir mit jedem Gegenanstieg langsamer. Doch die immer neuen Ausblicke über das weite Gipfelmeer des Kaukasus machen das Gehen kurzweilig. Vom letzten Gipfel aus können wir direkt zum Schuhdepot abfahren und laufen zufrieden hinaus nach Ushguli.

In den nächsten Tagen wenden wir uns kleineren Gipfeln über dem Dorf zu: Wieder sind wir weit und breit alleine, die Hänge gehören nur unseren eigenen großradigen Schwüngen im Frühjahrsfirn. Wann hat man dieses Privileg schon mal zuhause in den Alpen? Duch das warme, kontinentale Klima sind die Südhänge und Talböden schon lange aper, und so können wir nach getaner „Arbeit“ barfuß schlendernd durch das erste saftig grüne Gras zum gemütlichen Guesthouse gehen.

Nichtsdestotrotz, das Hauptziel unserer Reise liegt weiter im Osten: Dort erhebt sich mit dem Kazbek ein nicht wirklich schwieriger, aber immerhin 5037 Meter hoher Vulkankegel in den Himmel. Neben dem einfachen Normalweg gibt es in den Süd-, Südost- und Ostwänden und -flanken zahlreiche steile oder extreme Abfahrtsvarianten.

Als wir nach nervenaufreibenden Taxi-, Marshrutka-, Nachtzug- und wieder Taxifahrten im Talort Kazbegi ankommen, müssen wir leider feststellen, dass uns der schneearme Winter einen Strich durch die Rechnung gemacht hat: Statt der klassischen Frühjahrssituation wie in Ushguli herrscht hier eher Sommer, es liegt kaum Schnee und in den steilen Abfahrtsvarianten liegt Schotter oder glänzt Blankeis.

Der Wetterbericht ist aber nach wie vor gut, und so sollte zumindest der Normalweg eine sichere Sache sein. Der Stützpunkt dafür, die Bethlemihütte, ist eine alte sowjetische Wetterstation, die irgendwann von den Bergsteigern vereinnahmt wurde. Die rohen Betonwände sind nicht isoliert, Decken gibt es keine. In Kazbegi wollen wir uns also Schlafsäcke leihen. Doch die brachialen Kunstfasermonster mit fragwürdigen Isolationseigenschaften haben noch brachialere und fragwürdigere Packmaße und würden meinen Tupilak 37+ Rucksack komplett ausfüllen! Wie sehr wünsche ich mir doch gerade einen gemütlichen und vor allem kleinen Firefly herbei. Es hilft nichts, wir diskutieren die einzigen zwei Möglichkeiten: Schleppen, oder Biwak in der Daunenjacke. Ich entscheide mich im Sinne des Light&Fast-Gedankens und meines begrenzten Skikönnens, dass mit großen und schweren Rucksack nicht gerade besser wird, für Letzteres.

Nach einigem Tragen können wir beim Hüttenzustieg unerwartet schnell auf Skier wechseln und so die 1900 Höhenmeter einigermaßen komfortabel hinter uns bringen. Eine Besonderheit, neben den umwerfenden Landschaftseindrücken, war ein Hund, der uns selbst auf dem Gletscher noch munter begleitete. Streunerhunde gibt es in Georgien viele, und so denken wir uns nichts dabei. Vermutlich weiß er, dass er sich auf der Hütte gut durchschnorren kann.

Die Hütte ist ein sehr cooler Ort. Alles andere als komfortabel, natürlich, aber das muss eine Berghütte auch nicht zwingend sein. Dafür strahlt das zweckentfremdete Gebäude einen ganz besonderen Flair aus: Die Front ist mit knalligen Farben bemalt und in der Gemeinschaftsküche haben Bergsteiger die Wände und Decke mit Stickern und Fahnen ihrer verschiedensten Herkunftsländer ausgeschmückt. Die meisten anderen Bergsteiger, mit denen wir uns die Betonunterkunft teilen, sind ohne Ski unterwegs, tragen dafür aber gigantische Rucksäcke (- vielleicht kann ich ja in einem davon biwakieren…?). Zwei Stunden nach ihnen aufzubrechen sollte kein Problem sein, entscheiden wir.

In den Lichtkegeln der Stirnlampen stolpern wir am nächsten Morgen noch zu Fuß über endlosen Moränenschutt, bis wir endlich, nach Stunden, die Ski anziehen können. Aber der Schnee ist wenigstens hart und griffig, sodass wir schnell die anderen Seilschaften überholen können. Vorsichtig schiebt sich die Dämmerung über den Horizont, der Gletscher beginnt blau zu leuchten, die umliegenden Berge refektieren surreales lila Licht und zeichnen sich langsam kristallklar gegen das zarte Rosa des erwachenden Himmels ab. Die Luft wirkt klar wie Glas, als würde sie zerbrechen, zersplittern wenn man dagegen stößt. Eiskristalle knirschen unter den Fellen, Atemgeräusche übertönen das hier fast schrille Knistern der Hardshellklamotten, auf denen sich die Kondensfeuchtigkeit sofort wie ein empfindliches, scheues Kunstwerk der Natur als Reif sammelt.

Durch die fehlenden technischen Schwierigkeiten kann jeder sein eigenes Tempo gehen, was besonders hilfreich ist, weil wir nur bis 3500 Meter akklimatisiert sind. Die letzten 600 Höhenmeter steilen etwas auf und sind sehr hart, sodass wir hier auf Steigeisen wechseln und Schritt für Schritt Richtung Gipfel stapfen. Eigentlich klettere ich ja lieber statt zu laufen. Ich finde es viel einfacher, auf eine Seillänge zu fokussieren statt auf ein langweiliges monotones Tempo. Aber nach einigen Anlaufschwierigkeiten finde ich schließlich doch diesen seltsamen meditativen Rhythmus einer endlosen Schneeflanke. Umso höher ich mich über den spiegelnden Firn nach oben schraube, umso schwerer wird meine Atmung. Wäre ich doch nur besser akklimatisiert!

Auf den letzten Metern zum Sattel zwischen West- und Hauptgipfel steilt der Hang noch einmal zu einer Wechte auf. Als ich schließlich meinen Kopf über deren Rand schiebe staune ich nicht schlecht: Über mir sitzt der Streunerhund und schaut mich seelenruhig an! Obwohl ich heute der erste am Berg bin, scheint er schon eine ganze Weile dort oben auf 5000 Meter Höhe in der Sonne zu chillen. Selbstverständlich muss ich noch ein Selfie mit diesem coolen Bergkameraden machen, bevor ich die letzten Meter zum Gipfel in Angriff nehme. Dieses Stück ist komplett blank, doch der Hund scheint seine Steigeisen vergessen zu haben. Also heute wohl kein Gipfel für ihn…

Das Gipfelpanorama ist einfach beeindruckend! Alle anderen Gipfel in der Umgebung sind fast 1500 Meter niedriger, sodass die Aussicht wirklich wirkt wie aus dem Flugzeug. Im Süden liegt das Tiefland Georgiens unter uns, im Norden erstrecken sich die Ebenen Russlands bis zum Horizont. Sogar Elbrus und Shkara sind in der Ferne zu erkennen. Wegen dem Blankeis können wir nicht direkt vom Gipfel abfahren, aber immerhin von etwa 50 Metern darunter. Die oberen 600 Meter sind knüppelhart und eine ordentliche Oberschenkelmassage, aber immerhin finden wir weiter unten auf dem Gletscher ein paar Durchschlupfe, sodass wir ohne Tragen zur Hütte zurückkommen. Dort bleiben wir eine weitere Nacht, um bei der Abfahrt nach Kazbegi nicht im aufgeweichten Nachmittagssulz stochern zu müssen. Natürlich müssen wir auf den letzten paar Stunden die Ski wieder an den Rucksack schnallen, und wieder kommen wir uns fehl am Platz vor, als wir behängt mit Wintersportausrüstung durch das wüstenartige Tal laufen. In Kazbegi gönnen wir uns erstmal ein ordentliches Mittagessen. Oh, wie gut das deftige georgische Essen doch nach ein paar Tagen am Berg schmeckt!

Wieder in Tbilisi angekommen nutzen wir unseren letzten Tag für Sightseeing in dieser spannenden Stadt. Beim Rückflug nach Deutschland überlege ich bereits, wann ich denn wieder kommen möchte. Abgesehen von dem Skigelände bietet der Kaukasus jede Menge Kletterpotential…

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