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Pandora: Schönheit mit allen Übeln der Welt | Sass Pordoi

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  • Martin Feistl
  • Team

Text: Martin Feistl

Fotos: Martin Feistl & David Bruder

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PANDORA: Frei nach Hesiod eine verführerische Schönheit gepaart mit allen Übeln der Welt

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Prolog

Was stellt in einer Zeit, in der im Sekundentakt über Soziale Netzwerke ein vermeintliches Highlight das nächste jagt, eine wirklich herausragende alpinistische Leistung dar? Und wie kann man, wenn man denn in den Genuss eines solch undefinierbaren Erlebnisses gekommen ist, der Welt zu verstehen geben, welche persönliche Bedeutung dieses hat? Am besten wohl – nein, nicht über eine Fotogalerie im schnelllebigen Facebook mit narzisstisch-heroischem Text dazu, bei dem man nach spätestens drei Fotos keine Lust mehr hat, weiter zu klicken. Auch und erst recht nicht über einen Instagram-Post mit vielen Bling-Bling-Hashtags, wenig Sinn, noch weniger Humor, dafür aber Bildern, die für sich sprechen können (sollten). Ja, wenn überhaupt, dann wird man diesem Anspruch über einen geschriebenen Text gerecht. Ein Text, der durch Fotos ergänzt wird, nicht andersherum. Dieser Text soll genau das schaffen. Er soll zum Nachdenken, Phantasieren und auch Staunen anregen, natürlich nicht ohne gänzlich auf Narzissmus verzichten zu wollen, jedoch als Vehikel und nicht als Selbstzweck.

 

Eine einzigartigste Linie

Es ist Ende Dezember und mich beschleicht langsam das ungute Gefühl den Beginn der Eissaison irgendwie verschlafen zu haben. «Die letzten Jahre um die gleiche Zeit habe ich doch schon…» Naja, plötzlich sickern zusätzlich zu den alljährlich wieder in den Dolomiten hervorsprießenden Plaisir-Mixed-Klettereien, die man genau sechs Instagram-Stories, vier italienische und einen deutschen Facebook-Posts lang klettern kann, bevor alles Eis um- oder abgegraben ist, Informationen von einer angeblich ganz besonderen Linie an der Sass Pordoi Westwand durch. Ich treibe ein Wandbild und einige spärliche Informationen von Simon Gietl, einem der Erstbegeher dieser ominösen Linie, auf. Was ich da sehe, kann ich nicht fassen! Da sind der Simon und der Vittorio Messini mal gute zehn Seillängen auf dem einfachsten Weg durch die riesige Westwand mäandriert, gönnten sich eine Biwaknacht, um dann in sechs weiteren Seillängen durch ein Eissäulen-Konstrukt von einem anderen Stern zu klettern! So etwas gab es in den Alpen noch nicht und benötigt zur artgerechten Beschreibung in so superlativen Zeiten mindestens ein hyperlatives Prädikat: Einzigartigst. 

 

Once in a lifetime

Ich schicke David ein Bild der Wand und frage: «Sonntag Zeit?» Seine Antwort kommt prompt und erwartbar: «Dafür schon!» Der Rest ist schnell erzählt: Um 2 Uhr nachts Abfahrt in München, um 13:30 Uhr am siebten Standplatz beim Haulen die Steigeisen runtergeworfen, abgeseilt, heimgefahren. Ach nein. Am nächsten Tag sind wir nur wegen der Ironie im Text «Once in a lifetime» geklettert. 2019 eingebohrt und als M8 vier Seillängen lang an Zapfen erstbegangen, dieses Jahr (once per season?) als kompletter Eisfall mit zwei zusätzlichen Seillängen kletterbar. Die vierte Seillänge steht als etwa fünf Meter freistehende Säule da. Ich schleiche rauf und runter, weitere Seilschaften im Genick und die Fotos aus Facebook im Hinterkopf, wer da schon alles hochgekommen ist. Ich bemerke, wie sich mein persönliches Risikomanagement von Anderen beeinflussen lässt und versuche, mich auf meine eigenen Erfahrungen und Gefühl zurückzubesinnen. Ich beginne ernsthaft zu überlegen umzudrehen. Es gelingt mir nicht. Stattdessen steige ich mit ungutem Bauchgefühl, gerechtfertigt durch einen bei einem Kollaps ziemlich sicher nicht tödlichen Ausgang in diese sportlich vollkommen wertlose Mini-Säule ein. Am Ende benutze ich einen Bohrhaken als Hintersicherung und mühe mich irgendwie bis zum Ende der Säule, das ja bestimmt massig angewachsen ist, wie wir uns versucht haben einzureden. Naja. Die faule Säule stand eigentlich nur auf sich selbst und ging oben direkt in flüssiges Wasser und Schnee über. Für ein glamouröses Foto auf Instagram sollte es aber reichen. Natürlich ohne die Gedanken, die mir während der Begehung durch den Kopf geschossen sind. Denn auf Instagram bin ich der beste vorstellbare Alpinist, da bleibt kein Platz für die Realität. Es sollten übrigens noch Dutzende Seilschaften in dieser Saison folgen und die Säule hält und hält…

 

Das Ende der Geschichte?

Jetzt mag man denken: Etwas selbstverliebt-heroische, gepaart mit konservativ-ethischer Alpinliteratur und das soll das Ende dieser Geschichte sein? Mitnichten! Der zweite Akt beginnt zehn Tage später, als sich nach sechs Tagen in Finale der innere mediterrane Sportkletterer dem Masoch-Alpinisten in mir geschlagen geben musste. Ersterer hatte nämlich keine Haut mehr auf den Fingern und Zweiterer schielte schon seit Tagen auf die Wetterprognose der Dolomiten, es blieb die ganze Zeit über kalt, nur mit dem westseitig ausgerichteten Eis steht und fällt sprichwörtlich alles.

 

Die vier F’s des Bergsteigens

Wieder 2 Uhr morgens Abfahrt in München, gepackt wird zur Abwechslung aber nicht auf der Autobahn, sondern regelrecht gemütlich in Davids Tiefgarage. Vier Stunden später bleiben wir fast am Sellajoch in einer Schneeverwehung stecken, aber Willi war willig. Willi ist Davids Sharan. Der Rest ist ja bereits bekannt und bis zu unserem Umkehrpunkt können wir durch längere Seillängen zwei Standplätze und durch die viel besseren Verhältnisse mit weniger Schnee knapp drei Stunden einsparen. Es folgt eine 20 Meter lange Abseilstrecke, die Grund für die Angabe «A0» im Topo der Erstbegeher ist. Weil aber style definitiv matters und A0 keinen style hat, klettere ich die Passage ab. Kindisch möchte man meinen? Kindisch, ja. Aber auch konsequent und prinzipientreu, auch und gerade unter widrigsten Bedingungen eine Tugend, die vielen selbsternannten Alpinisten abhandengekommen ist. Bei solchen Klettereien liegt der sportliche Anspruch, gemessen an der Schwierigkeit in einer Zahl ausgedrückt, eh meistens nicht sonderlich hoch. Die Schwierigkeiten liegen vielmehr nach David in den vier F’s des Bergsteigens: Nein, nicht Fressen, Ficken, Fernsehen, das sind nur drei – sondern: Fürchten, Frieren, Fels und Festwasser. 

 

Säulen sind Schweine.

Vor dieser Abkletter-Passage waren die unteren Enden der Eiszapfen schon zum Greifen nahe, danach wieder unerreichbar weit entfernt, bevor sich David über vier Seillängen über einen großen Bogen von rechts wieder heranschleicht. Dort klippen wir die einzigen Bohrhaken des Tages – auch irgendwie ein cooles Gefühl, sich mal kurz keine Gedanken machen zu müssen. Mittlerweile ist es halb 2 und wie wir so auf dem 4 m² großen Biwakband mitten in dieser riesigen Wand sitzen, beschließen wir, dass man das doch jetzt auch noch in einem Tag klettern können müsste. Wir deponieren den Rucksack mit den Matten und Schlafsäcken und wechseln die Rollen. Härtestes Eis 400 Meter über dem Boden in einer in den Alpen noch nie dagewesenen Form, da sollte man beim obligatorischen Runterschauen zum Treten nur im Nahbereich scharf stellen. Und wieder die Frage nach der Sicherheit beim Eisklettern. Gibt es sie? Ich hoffe doch nicht! Die nächste Säule mit imposantem Querriss an der Basis lässt sich zum Glück etwas über den Fels klettern und absichern und auch die nächste Seillänge fordert nochmals enorm, dort musste zum ersten Mal zwingend auf der sonnenbeschienenen Seite der Eisspur klettern. Das bedeutet senkrechtes, milchig-weißes Eis mit vielen Lufteinschlüssen, kaum Möglichkeiten ernsthaft abzusichern, dafür aber mit sehr vielen Möglichkeiten mit beiden Eisgeräten in der Hand aus der Säule herauszukippen. Ich habe innerhalb von drei Seillängen das Gefühl meinen jährlichen Bedarf an Säulen bereits wieder gedeckt zu haben. Denn spätestens seit Andi Dick sollte man wissen: Säulen sind Schweine. 

 

Die Bruder’sche Theorie der minimalen Gewichtsdifferenz

Aber wenn wir von Risikomanagement sprechen, dann reden wir von einem kalkulierten Verhältnis einer realen Gefahr zu deren Eintrittswahrscheinlichkeit und dem, was für uns als Kletterer dabei herausspringen kann. Im konkreten Fall besteht die Gefahr im Erschlagen-werden durch eine kollabierende Säule, die Eintrittswahrscheinlichkeit dafür lässt sich nur auf Gefühlsbasis und der Bruder’schen Theorie der minimalen Gewichtsdifferenz bestimmen: «Bei einer Säule mit grob 2 m² Durchmesser und 10 m Höhe komm ich bei einer Dichte von 0,92 g/cm³ auf ein Gewicht von über 18 Tonnen, da macht so ein kleiner Martin auch nix mehr aus.». Der Mann ist Ingenieur. Wie es auf seinem T-Shirt steht, nehmen wir um Zeit zu sparen an, dass er immer recht hat. Nur warum schickt er dann mich vor? Ach so, dabei herausspringen tut einfach gesprochen die geilste Eislinie, die die Alpen in den letzten Jahren gesehen haben – oder anders ausgedrückt: Wir müssen da hoch.

 

Beginn und Ende

Am Standplatz angekommen beginnt die Sonne unterzugehen, aber es zeichnet sich ein Ende ab! Das Eis wird kompakter und legt sich zurück, zwei Seillängen vielleicht noch? Die klettern wir jetzt auch noch in der Nacht raus, das nimmt uns niemand mehr. Schon seit einiger Zeit sind unsere Standplatzwechsel fliegend, bevor David ganz angekommen ist, starte ich schon in die nächste Seillänge, das Adrenalin und der Zeitdruck der untergehenden Sonne machen’s möglich. Die letzten 20 Meter klettere ich im Schein der Stirnlampe und dann ist es da: Der Beginn. Der Beginn? Er meint wohl das Ende? Beides. Das Ende des Eisfalls und das Ende meiner körperlichen Fähigkeiten. Ich drehe noch schnell zwei Eisschrauben und sacke am Standplatz zusammen. Schüttelfrost, Atemnot und Gefühlslosigkeit in den Armen und Beinen ergreift Besitz von mir, innerlich bin ich aber so ruhig, wie ich es nur in den Bergen sein kann, ich kenne diese Situationen. Sie sind der Beleg dafür, dass ich meine Grenzen um ein Neues erfolgreich ein Stück ins gerade noch Mögliche verschoben habe. Aber auch der Beginn einer langwierigen Abseilaktion in der Nacht und vor allem: Der Beginn für neue Abenteuer, es gibt sie nämlich noch, auch in den Alpen. 

 

Epilog

Ich würde die Route als mein größtes Abenteuer bezeichnen, gemessen auch an den technischen Schwierigkeiten. Dennoch wird in dem Bericht kein einziges Mal eine Bewertung genannt – warum? Ich möchte mit einer Gegenfrage antworten: Wenn man dieser Route denn einen messbaren Schwierigkeitsgrad verpassen wollen würden, wäre der erste Gedanke: „Da ist ja jede zweite Route im näheren Umfeld viel schwieriger?!“ Und dennoch: Uns gelang die höchstwahrscheinlich zweite vollständige und letzte Wiederholung dieser Linie. Insgesamt haben es also (nur) drei Seilschaften jemals überhaupt da hoch geschafft. Warum, wenn doch die messbare Schwierigkeit gar nicht so hoch ist? Ganz einfach: Weil die Schwierigkeiten nicht messbar sind. Dinge wie Verhältnisse, Geschwindigkeit, Erfahrung im hoch-, runter-, quer-klettern und abseilen, im Hakenschlagen, Haken finden, Haken entfernen, ein perfektes Zusammenspiel der Seilschaft während einer 16 Stunden lang andauernden maximalen Selbstquälerei, gegenseitige Motivation, aber auch Rücksichtnahme und Visionen. Ich könnte die Liste noch lange weiterführen, es wären alles Faktoren, die man auch bei einer kurzen Eiskletterei, bei einer Mehrseillänge im Sommer, beim Sportklettern oder sogar in der Kletterhalle benötigt. Aber nur dort, in Pandora, muss jeder einzelne dieser Faktoren maßvoll zusammenkommen, erst dann werden solche Routen möglich und aus Routen werden unwiderruflich Erlebnisse.

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