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  • Barbara Vigl, Anna Truntschnig

    „Variety is the spice of life“

    Über unsere Begehung der Gervasutti-Gagliardone/Ostwand der Grandes Jorasses, Sommer 2023

    Foto von Babsi Vigl

Text: Barbara Vigl, Abänderungen & deutsche Übersetzung von Anna Truntschnig
Bilder: Anna Truntschnig, Barbara Vigl, Anna Zechling

Als Anna, Babsi und ich letzten Sommer beschlossen, eine Woche gemeinsam in den Westalpen zu verbringen, begannen unsere Köpfe sofort vor Ideen zu sprudeln. Sogleich jemand die Gervasutti-Gagliardone in der abgelegenen Ostwand der Grandes Jorasses erwähnte, waren wir alle Feuer und Flamme, und das Ziel war gefunden.

  • Babsi und Anna nähern sich dem Biwak. Von Foto Anna Zechling.

Jeder angehende oder etablierte Alpinist oder Bergfreund hat schon von der Nordwand der Grandes Jorasses gehört, aber was ist mit den unbekannteren Klettereien auf der italienischen Seite? Phillippe Batoux schrieb 2006 im The Alpinist Magazin „the 750-meter east face of the Grandes Jorasses (4208m) can only be seen from the far end of the Val Ferret. This so-called “Lost Face” has three parts: a shield of slabs, with a couloir in the middle; a steep, 300-meter wall with many roofs; and a mixed section with loose rock that leads to the end of the Tronchey Arete. Giuseppe Gagliardone and Giusto “Il Fortissimo” Gervasutti made its first ascent in 1942 (during the war!), by what was surely the most difficult route opened in the Alps before 1950.“

Diese Route, die von Giuseppe Gervasutti & Giusto Gagliardone in zwei Tagen eröffnet wurde, nachdem sie in fünf Jahren viermal versucht hatten diese Linie zu klettern, war ursprünglich als VI und A2 eingestuft, wurde aber vor nicht allzu langer Zeit als 5c/6a mit zwei anhaltenden Seillängen von 6b und einer Seillänge von A1 neu bewertet. Es war Gervasuttis größte Besteigung und galt als die schwerste Route in den Westalpen bis in die 1960er Jahre, laut BMC.

Seither war die Nordwand der Grand Jorasses in aller Munde – es wurde allerdings viel weniger über die Besteigungen der Grandes Jorasses Ostwand gesprochen. Dadurch erhofften wir uns ruhige, abgelegene, wilde und abenteuerliche Klettereien auf dieser Seite zu finden. Eine perfekte Wand um unsere Erkundungslust zu stillen und unseren gemeinsamen Urlaub zu starten.

Foto unten: Anna Zechling und Anna Truntschnig folgen Babsi über den Bergschrund. Foto von Babsi Vigl.

So packten wir Ende Juni unsere „sieben Sachen“, wie es so schön heißt (ok, wenn’s um Bergsteigen geht, scheint das Auto eher mit siebzig als sieben Sachen bepackt zu sein) und machten uns auf den Weg nach Courmayeur. Bei den letzten Wetterrecherchen während der Hinfahrt bemerkten wir bereits, dass die erhoffte Schönwetterperiode sich auf lediglich 2,5 Tage begrenzen würde. Eine knappe Angelegenheit, um von Innsbruck nach Courmayeur zu kommen, das Gervasutti Biwak anzusteuern, die gewünschte Route zu klettern und vom Berg abzusteigen, bevor einen das Gewitter überrascht. Knapp – aber nicht unmöglich. Da Babsi und ich den Abstieg von der Grand Jorasses bereits von Nordwandbesteigungen kannten, waren wir zuversichtlich, hier etwas Zeit gutmachen zu können und einen Versuch in unserer Wunschroute zu starten.

Am 27.06.2023 ging es mit dem langen Anmarsch vom Val Ferret hinauf zum gemütlichen Gervasutti Biwak dann los und wir freuten uns auf zwei Tage voller Abenteuer. Nach einem frühen Start am nächsten Tag erreichten wir den Fuß der Wand im Morgengrauen um 5:00 Uhr. Der erste Teil der Wand zeigte sich als schneebedeckte Mixedkletterei, die wir mit Steigeisen meisterten, bis wir das bekannte Schneefeld erreichten, welches zum Beginn der Felskletterei führte. Das Queren des Schneefelds war aufgrund der hohen Temperaturen selbst am Morgengrauen nass, mühsam und zeitaufwändig. Vom Genuss der durchnässten Bergschuhe durften wir noch länger zehren. Ab diesem Punkt wurde die Wand steiler und wir folgten der offensichtlichen Linie durch wunderschöne Risse und einige delikate Platten. Chapeau Gervasutti/Gagliardone, diese Plattenstellen mit alten Bergschuhen gemeistert zu haben! Für mich ist es immer wieder beeindruckend mir beim Klettern solcher Passagen die Erstbegeher mit ihrem damaligen Material vorzustellen!

Foto links: Anna Truntschnig beim Traversieren des Schneefeldes am Einstieg in die Route. Foto von Anna Zechling.

Foto rechts: Anna Truntschnig in der ersten Seillänge nach dem Schneefeld. Foto von Babsi Vigl.

Wir erreichten das A1 Dach mit seinem dünnen, überhängenden Riss und einige rostige Haken blinzelten uns bereits entgegen. Ein paar instabile große Felsbrocken später, durfte man im Riss seiner Kreativität im technisch Klettern freien Lauf lassen. So erreichten wir den Standplatz oberhalb des Daches und bemerkten erstmals die weite und unberührte Natur auf dieser Seite der Grand Jorasses: Unsere Spuren vom Zustieg über den Glacier de Fréboudze waren von hier oben kaum zu sehen, hinter dem Hirondelles-Grat wurden die Gebirgsketten des französischen Teils des Mont Blanc-Massivs sichtbar und außer dem Geräusch von gelegentlichem Steinschlag im Couloir unter uns waren keine Geräusche zu hören. Wir schienen ganz allein in diesem riesigen Felsenmeer zu sein.

Foto rechts: Babsi Vigl klettert am A1-Dach. Foto von Anna Truntschnig.

Von hier aus setzte sich der Weg in einer Reihe von Platten und Kaminen fort, die teilweise mit Schnee und Eis bedeckt waren und uns mehr Zeit kosteten, als wir kalkuliert hatten. Am Abend erreichten wir das Ende der Route und beschlossen auf einem kleinen Schneevorsprung zu biwakieren. Das Gute an einem Biwak im Schnee ist, dass man sich (meist) die (Schlaf-)Fläche seiner Wünsche bauen kann. So schafften auch wir es uns aus wenigen Quadratmetern ein gemütliches Heim für eine Nacht zu basteln. Ausreichendes Schneeschmelzen und drei Packerlessen später verschwanden wir schnurstracks in zwei zusammengezippten Firefly Schlafsäcken, die für uns drei ausreichten, und schliefen ein. Der nächste Tag überraschte uns mit einem atemberaubenden Sonnenaufgang, und angesichts des für den Nachmittag erwarteten Gewitters beeilten wir uns, den Grat durch gemischtes Gelände und teilweise tiefen Schnee zum Gipfel der Pointe Walker zu erreichen.

Geschafft! Ein kurzer Moment der gemeinsamen Freude am Gipfel und wir machten uns sogleich auf den Weg Richtung Boccalatte Hütte, um Schutz vor dem bevorstehenden Gewitter zu finden.

Foto unten: Anna Truntschnig, Anna Zechling und Babsi Vigl auf dem Gipfel des Walker Pfeilers, Grandes Jorasses. Foto von Anna Truntschnig.

Leider war der Regen ein kleines bisschen schneller als wir und etwas durchnässt erreichten wir eine kalte und leere Hütte. Schade – ein kurzer Hoffnungsschimmer auf eine geöffnete Hütte mit Wärme, Essen und Bier war durchaus gegeben. Aber das machte uns nichts! Die Freude über das erlebte Abenteuer war nämlich groß genug um uns zu wärmen und das kulinarische Feiern der Tour getrost auf den Abend zu verschieben.

Wir warteten bis der Sturm nachließ, teilten gleichmäßig unsere letzten Energieriegel auf, tranken einige Tassen Tee und erreichten abends Courmayeur, wo wir unsere leeren Mägen mit reichlich Pizza versorgten. Was für uns ein spannendes und abenteuerliches Urlaubsziel war, wurde uns im Nachhinein von Dritten als die erste Frauenbegehung der Gervasutti-Gagliardone deklariert. Aber egal ob Frauenbegehung, Männerbegehung, bunte Begehung, Massenbegehung, Einzelbegehung oder welche Benennungen es auch noch so geben mag…jede Begehung ist ein Erlebnis für sich und wir freuen uns ein gemeinsames Abenteuer an der Ostwand der Grand Jorasses erlebt zu haben!

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