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Hochalpines Plaisir

Klettern am Kaunergrat

Text, Bilder & Videos: Silvan Metz

Clipp. Die nächste Exe hängt im blinkenden Bohrhaken. Der direkt neben einem perfekten Riss im Gneis steckt. Eigentlich schade, denke ich noch, aber bevor ich weiter darüber sinnieren kann, sprinte ich schon dem nächsten Edelstahlwegweiser entgegen. Bolts ermöglichen eben doch eine flowige und flotte Geschwindigkeit – und die genießen wir jetzt erstmal!

Ein weiterer Vorteil der Bohrhaken? Ohne sie wären wir gar nicht hier. Aber wo sind wir überhaupt? Nun, wir kraxeln gerade über die vielen Zacken am Verpeilspitze Nordgrat. Das ist ein verstecktes Kleinod im Kaunergrat, einem Nordausläufer der Ötztaler Alpen. Eigentlich hätte ich hier nie eine solche Tour erwartet – zwei Kilometer Gratstrecke, Kletterei bis V, alles zwischen 2.800 und 3.423 Meter Höhe – , aber nachdem der örtliche Bergführer Florian Schranz diese vergessene Tour mit 130 Bohrhaken aus einem jahrzehntelangen Dornröschenschlaf geholt hat, hat die Gegend irgendwie ihren Weg auf mein Radar gefunden.

 

Und so stehen wir heute Morgen bei Sonnenaufgang am Verpeiljoch, wo die Tour startet. Die Wegewarte haben mit Holzstufen und Drahtseilen eine beachtliche Leistung gegen die Erosion erbracht, sodass der lange Aufstieg immerhin einigermaßen angenehm war. Los geht es seilfrei über leichtes Blockgelände, während die Morgensonne langsam den kalten Fels erwärmt. Die vielen Bohrhaken helfen den Wegverlauf von den brüchigen Flanken an die festere Gratkante zu verlegen, was definitiv den Spaßfaktor erhöht.

Jetzt, hier im Mittelteil, wird die Kletterei anspruchsvoller. So möchte eine Ver-Platte mit Bergschuhen geklettert werden. Die Absicherung dagegen bleibt gewohnt stahlhaltig: An kaum einem ähnlichen Grat kenne ich so eine hohe Hakendichte. Eigentlich hätte diese Tour dem Vergleich mit dem Schäligrat am Walliser Weisshorn, den man in einem Onlineartikel findet, durchaus standgehalten, aber die Sanierung sorgt dann doch für Exengemetzel statt alpinem Ernst. Aber das ist auch okay, wenn man mit der entsprechenden Erwartungshaltung an die Tour geht. Die haben wir, sodass wir den Edelfels und das Panorama auskosten, anstatt uns in eine Ethikdiskussion zu verbeißen.

 

Nach einigen Stunden Kletterei kommen wir am Gipfel an. Nach Süden öffnet sich der Blick nicht nur der Blick in Richtung Ötztaler Hauptkamm, sondern auch auf mögliche Tourenziele der nächsten Tage: Als mächtiger Klotz lockt die Watzespitze für morgen, doch davor geht es zur Übernachtung auf die Kaunergrathütte, die im Epizentrum der Kaunergrat-Klettertouren liegt. Von der Verpeilspitze ist es zum Glück auch nicht weit zum Abendessen dort.

Verpeilspitze Nordgrat

Der Nordgrat der Verpeilspitze ist einer der längsten Urgesteinsgrate Tirols und steht ganz im Gegensatz zu den sonst eher leichten Touren der Ötztaler Alpen. Von Begehern wird obligatorisch der obere IV. Grad abverlangt, dafür gibt es überwiegend sehr guten Fels zumindest bei allen Kletterstellen über dem II. Grad. Etwa 130 Bohrhaken degradieren den Grat von einer fordernden, westalpenähnlichen Tour zu einem gemütlichen Exengemetzel. Das ist schade, aber immerhin ist die Tour so auch mit leichtem Gurt und wenig Erfahrung genießbar.

Am nächsten Morgen müssen wir von der Hüttenterrasse aus nur drei Mal in die richtige Richtung umfallen, schon stehen wir am Einstieg. Die richtige Tour für Langschläfer also – keine Ahnung, wieso sie „Early morning in the sun“ heißt… Ironie vermutlich. Immerhin, den „in the sun“-Part nehmen wir dann doch gerne mit.

 

Der Normalweg auf die Watzespitze führte früher über einen Hängegletscher an der Ostflanke. Der Klimawandel macht dem aber einen Strich durch die Rechnung. Statt Firnrinnen gibt es im Sommer hier vor allem Schotter und Steinschlag. Zum Glück hat sich schon länger ein neuer Normalweg über den Ostgrat etabliert, der über 700 Höhenmeter durch festen Fels führt. Obwohl die Kletterei nicht zu schwer ist, sollte man die Tour mit Hörnligrat-Symptom nicht unterschätzen: Jeder Meter muss auch wieder abgeklettert werden, einen einfacheren Abstieg gibt es nicht!

Wir wollen den Ostgrat noch etwas nach unten verlängern: An seiner Basis gibt es einige Mehrseillängen zwischen IV und VII-, die früher oder später in die Ostgratroute münden. In der bereits erwähnten „Early morning in the sun“ werden wir wieder von griffigen Gneis verwöhnt. Die Tour ist plaisiermäßig sehr gut eingerichtet, aber etwas gesucht. Eigentlich ist die Wand, durch die wir gerade klettern, eine Aneinanderreihung von Bändern und Aufschwüngen, wobei unsere Route stets die steilsten und schwierigsten Passagen zu verbinden versucht. Dadurch müssen wir einige skurril-künstliche Seillängen klettern, bei denen wir uns fragen, ob es nicht manchmal besser wäre, statt den steilsten lieber die schönsten Passagen einer Wand zu verbinden.

Spaß macht die Tour trotzdem und irgendwann stehen wir an der Ostgratroute. Weiter geht es über diese riesige Treppe aus warmen Gneisblöcken. Die Wegfindung ist recht einfach, sodass wir schnell wieder in einen adrenalin- und laktattriefenden Flow kommen. Am Gipfel erwartet uns sogar eine noch schönere Aussicht als gestern: Im Osten reicht der Blick bis zu den firnglänzenden Gletschern am Großvenediger und zu den Kalktürmen der Dolomiten, im Westen thronen Bernina und Ortler über den Grasbergen im Vinschgau. Wenig verlockend dagegen ist der Blick auf den Abstieg – heute steht mehr zwischen uns und dem Bier auf der Kaunergrathütte!

Nach zwei anstrengenden Stunden rätseln wir dort über dem dicken Topo-Ordner darüber, was wir morgen machen sollen: Eine klassische Buhl-Tour an der Seekarlesschneid? Eine Risstour am südlichen Watze-Ostpfeiler? Kletterei am Piz Mascus? Der Südwestgrat an der Verpeilspitze? Ausschlaggebend ist ein Tipp von Hüttenwirt Michael: Am Parstleswand Ostgrat soll es den besten Fels der Gegend geben. Das müssen wir uns anschauen!

Watzespitze „Early morning in the sun“ & Ostgrat

Die "Early morning in the sun" bietet schöne Urgesteinskletterei am unteren Ende des Watzespitze Ostgrates. Plaisiermäßig eingebohrt. Besonders lohnend in Kombination mit dem Watzespitze Ostgrat.

Ostgrate haben die angenehme Eigenschaft, einen schönen Blick in Richtung Sonnenaufgang zu bieten. Sonnenaufgänge haben die unangenehme Eigenschaft, dass man früh aufstehen muss, um sie zu erleben. Hilft ja nichts, die Kamera möchte auch benutzt werden. Also stolpern wir wieder mal im Schein der Stirnlampe über Geröll. Als sich am Horizont ein erster zarter Streifen kaltes Lila abzeichnet, stehen wir am Einstieg. Im Tal liegen noch Wolkenfelder, die immer wieder hochwabern und uns einhüllen. Die werden uns doch nicht den Sonnenaufgang vermiesen? Nun ja, da haben wir eh keinen Einfluss darauf. Also starten wir im surrealen Licht der Dämmerung in den Grat.

Oh, die Empfehlung war nicht übertrieben! Grüngrauer Granit, wie man ihn aus dem Bergell oder den Aiguilles de Chamonix kennt, verwöhnt unsere Finger. Dass sich so etwas in den notorisch gerölligen Ötztaler Alpen finden kann, hätte ich nie erwartet. Die Gegend hatte ich eigentlich unter „Schotter und Bruch, nur zum Skitourengehen“ abgespeichert. Aber manchmal lohnt es sich, genauer hinzuschauen!

Um die Sache perfekt zu machen fährt der Sonnenaufgang große Geschütze auf: Die ersten Wolken leuchten blutrot, dann kommt ein immer größerer Teil der gesamten Farbpalette dazu. Als ob das nicht genug wäre ziehen immer wieder Wolkenfetzen wie ein Vorhang zwischen den Akten eines gigantischen Freilufttheaters durch. Die Kamera glüht. Leider hat der Parstleswand Ostgrat einen großen Nachteil: Er ist viel zu kurz! Schnell stehen wir am Gipfel, von dem wir immerhin schnell zum verspäteten Frühstück zur Hütte absteigen können.

Von dort geht es über das Madatschjoch ins Kaunertal hinab. Das ist zwar ein weiter Hatscher, aber wir bekommen noch schöne Blicke auf weitere Ziele: Mächtig thront der Nordpfeiler der Watzespitze über dem Madatschjoch – er bietet bohrhakengesicherte Ver-Kletterei im ernsten Nordwandambiente. Darunter locken die stacheligen Madatschtürme mit vielversprechendem grünen Granit. Im Norden blockiert die Mauer aus Hochrinnegg und Schweikert die Sicht, auf deren Rückseite ebenfalls eine Reihe alpiner Mehrseillängen wartet. Ich glaube, wir kommen wieder!

Parstleswand Ostgrat

Wahrscheinlich der schönste Grat um die Kaunergrathütte, wenn man die Kletterqualität als Maßstab nimmt. Leider etwas kurz, aber durch den fantastischen, chamoniesken Fels und die beeindruckende Landschaft extrem empfehlenswert!

Packliste

Auch wenn der Gurt bei den vorgestellten Plaisirrouten "dank" Bohrhaken eher leicht ist, gehört doch einiges an Bekleidung und Ausrüstung in den Rucksack. Silvan stellt hier exklusiv seine Packliste für diese Touren zum Download zur Verfügung. Außerdem könnt ihr einen Blick auf seine Bekleidung und Ausrüstung aus der Mountain Equipment Kollektion werfen:

Daunen-Nachverfolgung

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