In der „Early morning in the sun“ ist es wegen der unzähligen Bohrhaken kaum möglich sich zu verlaufen. Etwas gekünstelt versucht die Linie die steilsten Passagen der gestaffelten Aufschwünge zu verbinden. Allerdings stellen wir schnell fest, dass die benachbarte „Herbstwind“ offenbar statt den schwierigsten die schönsten Kletterstellen zu verbindet. Alle paar Seillängen kann man aber zwischen den Routen wechseln, sodass für jeden das Richtige dabei ist.
An der Ostgratroute herrscht viel Betrieb. Wegen der Gletscherschmelze verläuft mittlerweile hier der Normalweg auf den höchsten Gipfel des Kaunergrates – trotz Schwierigkeiten im vierten Grad und einer imposanten Kletterlänge von 700 Höhenmeter. Gehgelände gibt es kaum.
Wieder werden wir von warmen, rauhen Gneis verwöhnt. Es ist ein Rausch, sich über diese Riesentreppe hinaufzuschrauben. Am Gipfel reicht die Aussicht von den Stubaier Alpen bis in die Bernina. Viel Zeit zu genießen bleibt uns nicht, denn der Rückweg ist lang. 700 Höhenmeter konzentriertes Abklettern stehen zwischen uns und dem Abendessen. An der Watzespitze ist der Gipfel buchstäblich nur der halbe Weg, einen leichteren Abstieg gibt es im Sommer nicht.
Die Crux des Tages kommt erst auf der Hütte: Wir müssen entscheiden, welche Tour wir morgen machen. Gar nicht so einfach, bei der Auswahl! Da wäre der Nordpfeiler der Watzespitze, der ebenfalls mit Bohrhaken saniert ist. Er verspricht eine ähnliche skurril-flowige Mischung aus alpiner Linie und bequemer Sicherheit wie der Verpeilspitze Nordgrat. Etwas leichter und deutlich kürzer kommt der Westgrat der Verpeilspitze daher, ebenfalls eingebohrt. Oder solls noch eine Klettertour sein? Neben den Touren am Watzespitze Ostpfeiler gibt es noch weitere Touren am sogenannten „zweiten Ostpfeiler“ etwas weiter südlich, inklusive einer mysteriösen Fingerrisslänge im achten Grad! Westlich des Madatschjochs steht mit den Madatschtürmen ein zackiger Gneisspielplatz mit verschiedenen Routen bis VII und einer spannenden Überschreitung. Komplett uferlos ist die Liste klassischer Touren. Zwar ist die eine oder andere mittlerweile eingestürzt, aber ebenso viele warten darauf, wiederentdeckt zu werden.