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Die Felsnadel im Schotterhaufen

„Hochtour, Schwierigkeit bis V, 6-8 Stunden reine Kletterzeit.“ Das lässt mich aufhorchen. Wallis oder Bernina? Nein, in den Ötztaler Alpen. Jetzt bin ich stutzig. Die Berge rund um Wildspitze und Weißkugel verbinde ich vor allem mit großzügigen Skitouren. In meiner Erinnerung tauchen Schotterwüsten auf, keine Kletterfelsen. Kein Wunder, dass diese Gegend im Sommer meist von meinem Radar verschwindet. Andererseits sind die Ötztaler Alpen verführerisch schnell erreichbar. Also gut, dann suchen wir mal diese Gneisnadel im Schotterhaufen!

Die erwähnte Tourenbeschreibung gehört zum Nordgrat der Verpeilspitze. Dieser erstaunlich steile Berg versteckt sich im Kaunergrat, einem Ausläufer der Ötztaler Alpen zwischen Pitztal und Kaunertal. Hier tummeln sich noch einige andere Felstürme. Neben Rofelewand, Gsallkopf, Hochrinnegg, Schwabenkopf und Madatschtürmen sticht besonders die etwas bekanntere Watzespitze hervor. Mehr als genug für eine ganze Woche.

 

 

Wir entscheiden uns für Feichten im Kaunertal als Ausgangspunkt. Der Zustieg zum Verpeilspitze Nordgrat steht mit 1600 Höhenmetern den Westalpenpendants nichts nach. Praktisch, dass die gemütliche Verpeilhütte auf halber Strecke liegt. Bei Nebel und Regen kommen wir dort an. Die mystische Stimmung passt gut zu der Hütte, die auf einer Lichtung zwischen knorrigen und flechtenüberwucherten Lärchen steht. Nur von den Bergen sehen wir nichts.

Auch als wir mitten in der Nacht aufbrechen verliert sich der Schein der Stirnlampen im Nebel. Der Weg zum Verpeiljoch ist ausgezeichnet markiert und so leicht zu finden, dass ich bedenkenlos im Halbschlaf dahinstolpern kann. Ich bekomme nicht einmal mit, als wir aus der Nebelschicht herauskommen. 800 Höhenmeter später wird es Zeit aufzuwachen. Am Verpeiljoch angekommen weitet sich der Blick nach Osten und die Dämmerung taucht den Himmel in zartes lila. Diese Morgenstimmung wäre einige hundert Höhenmeter tiefer auch schön – aber hier oben ist sie gigantisch! 15 Minuten Fotografie vergehen im Zeitraffer, jetzt bin ich hellwach.

Das ist auch gut so, denn ab dem Verpeiljoch beginnt der eigentliche Grat. Noch ist nichts von schwerer Kletterei oder gutem Fels zu sehen, stattdessen starten wir mit einem vorsichtigen Eiertanz über Mikadoblöcke. Aber das ist nur das Vorspiel.

 

 

Der Verpeilspitze Nordgrat führte lange ein Dornröschendasein, bis er vor einigen Jahren eine wohlverdiente Renaissance erlebte. Diesem Comeback hatte der Kaunertaler Bergführer Florian Schranz mit einigen Bohrhaken und vielen lobenden Worten nachgeholfen - bis hin zu einem Vergleich mit dem Schaligrat am Walliser Weißhorn. Gut, 130 Bohrhaken klingen eher wie ein fröhlichen Exengemetzel als nach einem ernsten alpinen Klassiker. Aber das soll nicht heißen, dass man hier keinen Spaß haben kann. Denn dank der Haken kann man nun direkt an der kompakten Gratkante klettern, anstatt der logischen klassischen Linie zu folgen. Letztere führt oft in die brüchigen und gefährlichen Flanken. Beim Klettern habe ich gemischte Gefühle darüber. Richtig alpines Flair mag angesichts der künstlichen Linie und der Edelstahlwegweiser nicht aufkommen. Andererseits können wir dadurch sehr entspannt und flüssig über die Gratzacken cruisen und die Kletterei so genießen, wie es bei klassischen Hochtouren in diesem Kaliber selten der Fall ist. Erstaunt muss ich feststellen, wie das die Wahrnehmung verändert und den Tunnelblick weitet. Statt Cam-Placements und Köpfel sehe ich jetzt die Aussicht um mich herum.

Und was es da alles zu sehen gibt! Rund um die steilen Gratflanken erstrecken sich weite Wüsten aus groben Felsblöcken und schwarzen Schotter, ganz wie in meinen Vorurteilen. Ohne vereinzelte Grasflecken und tiefblaue Seen könnte diese Mondlandschaft auch als Mordorkulisse herhalten. Besonders faszinierend sind die vielen Blockgletscher: Ganz wie ihre weißen Pendants wälzen sich breite Ströme aus Felsbrocken ins Tal.

 

 

Nach einem guten Drittel führt die Bohrhakenleiter immer anhaltender durch knackige Kletterstellen, die sogar einigermaßen obligatorisch gebohrt sind. Auch der Fels wird immer fester, kompakter und steiler. Und das allerbeste: Der ganze Spaß ist nicht nach wenigen Seillängen vorbei, sondern zieht sich. So sehr, dass es später Nachmittag ist, als wir endlich an der Kaunergrathütte ankommen. Die liegt bequeme eineinhalb Stunden unter dem Gipfel, ein langer Abstieg bleibt uns also erspart.

Die Kaunergrathütte ist ein echter hochalpiner Stützpunkt. Das liegt auch an Hüttenwirt Michael: Er hält nicht nur die logistisch fordernde Hütte am laufen, sondern engagiert sich außerdem sehr um ein immer größeres Angebot für seine kletterhungrigen Gäste. Direkt hinter der Hütte gibt es einen Klettergarten, einen Übungsklettersteig und perfektes Kursgelände. Vor allem aber wächst das Angebot an Klettertouren und sanierten Hochtouren rund um die Hütte. Michael hat dabei entweder selber seine Finger im Spiel oder unterstützt Erschließer so gut er kann. Der urige Topo-Ordner in der Gaststube quillt bereits jetzt über, doch das Potential der Gegend ist gerade erst angebrochen.

Nach dem frühen Hochtourenstart auf der Verpeilhütte ist jetzt (relatives) Ausschlafen angesagt. Ich mag Ironie, also steigen wir am nächsten Tag nach dem Frühstück gemütlich zur „Early morning in the sun“ am Ostpfeiler der Watzespitze zu. Wobei Zusteigen das falsche Wort ist, von der Hüttenterrasse aus ist dieser Felsklotz nur drei mal Umfallen entfernt. Kein Grund für einen early morning also, die Sonne dagegen nehmen wir gerne mit.


Vier Klettertouren zwischen IV und VII gibt es hier. Alle enden früher oder später am Ostgrat der Watzspitze, eine Kombination damit drängt sich direkt auf.

 

 

In der „Early morning in the sun“ ist es wegen der unzähligen Bohrhaken kaum möglich sich zu verlaufen. Etwas gekünstelt versucht die Linie die steilsten Passagen der gestaffelten Aufschwünge zu verbinden. Allerdings stellen wir schnell fest, dass die benachbarte „Herbstwind“ offenbar statt den schwierigsten die schönsten Kletterstellen zu verbindet. Alle paar Seillängen kann man aber zwischen den Routen wechseln, sodass für jeden das Richtige dabei ist.


An der Ostgratroute herrscht viel Betrieb. Wegen der Gletscherschmelze verläuft mittlerweile hier der Normalweg auf den höchsten Gipfel des Kaunergrates – trotz Schwierigkeiten im vierten Grad und einer imposanten Kletterlänge von 700 Höhenmeter. Gehgelände gibt es kaum.

Wieder werden wir von warmen, rauhen Gneis verwöhnt. Es ist ein Rausch, sich über diese Riesentreppe hinaufzuschrauben. Am Gipfel reicht die Aussicht von den Stubaier Alpen bis in die Bernina. Viel Zeit zu genießen bleibt uns nicht, denn der Rückweg ist lang. 700 Höhenmeter konzentriertes Abklettern stehen zwischen uns und dem Abendessen. An der Watzespitze ist der Gipfel buchstäblich nur der halbe Weg, einen leichteren Abstieg gibt es im Sommer nicht.


Die Crux des Tages kommt erst auf der Hütte: Wir müssen entscheiden, welche Tour wir morgen machen. Gar nicht so einfach, bei der Auswahl! Da wäre der Nordpfeiler der Watzespitze, der ebenfalls mit Bohrhaken saniert ist. Er verspricht eine ähnliche skurril-flowige Mischung aus alpiner Linie und bequemer Sicherheit wie der Verpeilspitze Nordgrat. Etwas leichter und deutlich kürzer kommt der Westgrat der Verpeilspitze daher, ebenfalls eingebohrt. Oder solls noch eine Klettertour sein? Neben den Touren am Watzespitze Ostpfeiler gibt es noch weitere Touren am sogenannten „zweiten Ostpfeiler“ etwas weiter südlich, inklusive einer mysteriösen Fingerrisslänge im achten Grad! Westlich des Madatschjochs steht mit den Madatschtürmen ein zackiger Gneisspielplatz mit verschiedenen Routen bis VII und einer spannenden Überschreitung. Komplett uferlos ist die Liste klassischer Touren. Zwar ist die eine oder andere mittlerweile eingestürzt, aber ebenso viele warten darauf, wiederentdeckt zu werden.

 

 

Wir entscheiden uns für eine weitere Bohrhakentour: Der Ostgrat der Parstleswand. Hüttenwirt Michael empfiehlt sie uns als „besten Fels der Gegend“ - das müssen wir uns anschauen! Ein ostseitiger Grat ist prädestiniert als Sonnenaufgangstour, also stellen wir den Wecker noch einmal auf eine unmenschliche Uhrzeit. Nach einer guten Stunde Zustieg am Grat ankommen ist alles vergessen – der Himmel explodiert in einer spektakulären Lichtshow. Immer wieder ziehen Wolkenfetzen vorbei wie der Bühnenvorhang zwischen einzelnen Akten und geben gerade genug Zeit für die nächste Seillänge.

So schnell wie die Lichtshow ziehen auch die Klettermeter an uns vorbei. Der Fels hier ist anders als in der Umgebung, richtiger Granit statt Gneis. Der Vergleich ist so alt wie Übertreibungen im Bergsport, doch hier kommt tatsächlich kurz Chamonixfeeling auf! Leider ist der Grat viel zu kurz, am Ostgipfel haben wir das beste hinter uns. Ich bin trotzdem begeistert, eine solche Felsqualität hätte ich in den Ötztaler Hochalpen nicht erwartet.

 

Was nun folgt sind einfache Kletterstellen zum Westgipfel. Diesen Abschnitt kann man auch als eigenständige Tour angehen – einer der besten Blockgrate Tirols, um sich als Einsteiger in diesem Gelände sicher zu erproben.

 

 

Am Westgipfel fällt mir der Weiterweg zur Verpeilspitze auf, die Partleswand ist eigentlich nur eine langgezogene Gratschulter. Dummerweise haben uns die Bohrhaken dazu verleitet, bis auf ein paar Exen das meiste Klettermaterial in der Hütte zu lassen, also verwerfe ich diese Idee schnell wieder. Später erklärt Michael, dass ein Kurs der österreichischen Bergführerausbildung kurz zuvor diese Verlängerung sogar mit ein paar Bohrhaken ausgestattet hat, doch „der Fels ist nicht richtig schlecht, aber... du weißt schon“ - Nicht so gut wie auf den bisherigen Touren und keine optimale Ergänzung der anderen, objektiv recht sicheren und anfängerfreundlichen Touren in der Umgebung.


Das soll nicht heißen, dass der Kaunergrat kein Spielplatz für Fortgeschrittene und Profis sein kann: Wer konditionsstark ist und sich im leichten bis mittelschweren Gratgelände wohlfühlt kann hier richtig Meter machen. Michael erzählt von einer Kombination von Verpeilspitz Nordgrat und Watzespitze Nordpfeiler. Wem das nicht lang genug ist, kann sich von Hansjörg und Matthias Auer inspirieren lassen: Die beiden kletterten über den gesamten Kaunergrat-Hauptkamm vom Kleinen Dristkogel über Gsallkopf, Rofelewand, Verpeilspitze, Schwabenkopf und Watzespitze bis zum Rositzkogel. 38 Kletterstunden, vier Tage, im Winter.

Als wir über den neuen Weg am Aperen Madatschjochs zur Verpeilhütte und ins Kaunertal absteigen können wir noch die Madatschtürme begutachten, deren Fels wie an der Parstleswand sehr an den grüngrauen Granit der Aiguilles du Chamonix erinnert. Nach Norden dagegen versperrt die mächtige Mauer von Schweikert und Hochrinnegg die Sicht. Auf deren Rückseite warten einige spannende Mehrseillängen bis VII+ in vielversprechenden Urgestein. Wir müssen wiederkommen - sieht so aus, als gäbe es hier viel mehr Felsnadeln im Schotterhaufen als gedacht!

 

Nur das Nötigste

Bekleidung und Rucksäcke für anspruchsvolle Tage im alpinen Gelände.

 

Bekleidung

Rucksäcke

Schlafsäcke

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