Text von Anna Gomeringer
Mit klassischen Hochtouren konnte ich eigentlich immer herzlich wenig anfangen. Für mich bedeutete dies einen schlechten Deal aus Laufen, Kopfweh, Übelkeit und für meinen Geschmack deutlich zu wenig Kletterei. So kam es, dass ich bei der Spaghettirunde, für die ich mich in meinem Leichtsinn als erste Führungstour eingetragen hatte, an Wanderungen mit kulinarischem Schwerpunkt im italienischen Alpenraum dachte. Heute weiß ich, das stimmt nicht, Spaghetti gab es nämlich kein einziges Mal, aber der Reihe nach.
Seit einigen Jahren gebe ich Kurse für die JDAV, jetzt auch für den DAV und habe mich da ziemlich gut eingerichtet. Ich weiß, was die Leute ungefähr erwarten, die Teilnehmenden sind immer sehr nett und es geht wesentlich um Wissensvermittlung, sodass es nicht weiter schlimm ist, wenn man mal nicht auf den Gipfel kommt. Als ich begriffen hatte, dass es sich bei der Spaghettirunde um eine Hochtourendurchquerung mit zwei Händen voll Viertausender handelt, war es dann schon zu spät für einen Rückzieher. Ich begnügte mich also damit, mir sehr gründlich Sorgen zu machen. Wie würde es sich wohl anfühlen, das erste Mal so richtig als Bergführerin zu arbeiten? Sind die Leute nett, die mit auf Tour kommen? Sind die anderen Bergführer und Bergführerinnen nett? Bekomme ich genügend Schlaf und Essen? Werde ich mich verlaufen? Werde ich
irgendetwas Wichtiges vergessen?
Die kurze Antwort: ja, ja, ja, nein und nein.
Am ersten Abend komme ich in fortgeschrittener Verwahrlosung in Herbriggen im Hotel an, wo ich mich eigentlich vor dem Kennenlernen der Teilnehmenden in einen halbwegs zivilisierten Zustand zurückversetzen will. Das wird allerdings von einem ausgewachsenen Stau verhindert und so sitze ich ziemlich deplatziert vor einem Gedeck mit drei verschiedenen Gabeln und Messern und beginne mich aufs Neue zu fragen, ob ich dieser Aufgabe wirklich gewachsen bin.
Die Zweifel blieben zwar vorerst, doch zumindest stellen sich meine Gruppenmitglieder und der zweite Bergführer spätestens beim Dessert als sehr umgänglich heraus und das Problem mit den Gabeln kann ich auch einigermaßen diskret lösen. Da sag noch einer, dass beim Sitznachbarn Abschauen im Leben nichts bringt.
Am nächsten Morgen dann erstmal Nieselregen auf dem Weg zur Liftstation. Bis wir dort sind ist alles klamm und eklig. Die Bahn aufs kleine Matterhorn bringt uns aber knapp über die Wolken, überall sind Nebelfetzen, die Sonne bricht immer wieder durch und plötzlich merke ich, es ist ja doch nur Bergsteigen. Gurt an, Jacke an, Steigeisen, Seil für die Dreiergletscherseilschaft vorbereiten, auf einen Teilnehmer warten, der sich noch herrichten muss und dann ist auch schon Walter, mein zweiter Bergführer im Nebel verschwunden. Toll! Ich weiß natürlich ungefähr, wo das Breithorn ist, wäre gute Sicht, müsste ich einfach nur darauf zu laufen, aber es gibt achtundvierzig mögliche Trampelpfade und ich will nicht jetzt schon auf das Handy schauen. Also laufe ich auf gut Glück in die von mir vermutete Richtung und versuche per Gedankenkraft das Breithorn dorthin zu verschieben oder zumindest den Nebel aufzulösen. Letzteres funktioniert und quasi direkt vor uns erscheint unser erster 4000er, eine sanfte Kuppe, die im Licht glitzert, mit moderater Steigung, einer sehr guten Spur und einem scharfen Grat als Abstieg.
Das beseitigt gleich meine nächsten Bedenken und in mir keimt neben der Erleichterung, dass ich das vielleicht doch alles kann und schaffen werde, die Freude auf, die ein strahlend blauer Himmel über verschneiten Bergen mit sich bringt. Wir steigen in gemächlichem Tempo gen Gipfel und ich merke, dass es doch etwas gebracht hat, dass ich die ganze letzte Woche auf 3000m Kurs gegeben habe. Noch eine Sorge weniger. Oben angekommen tut sich uns ein atemberaubendes Panorama auf. Überall namhafte Gipfel, das Grün im Tal kontrastiert mit dem chaotischen Braungrau der Moränen, dem Weiß der Gletscher und dem Blau des Himmels. Am Gipfel selbst haben ein paar der Gäste Tränen in den Augen, sicher nur vom Wind.
Wegen des Windes fällt hier auch das große Picknick aus. Wir bauen um auf Sprungseil und balancieren über den Schneegrat zu einem Sattel, nehmen einen kleineren Gipfel im Vorbeilaufen mit und biegen ab in den Kessel, der uns zu unserer ersten Hütte, der Guide d’Ayas bringt. Auf dem Weg treffen wir noch einen Freund von mir, der vom Pollux kommt und über beste Bedingungen zu berichten weiß, dann stolpern wir auch schon auf die Terrasse der Hütte. Kleiner Kulturschock: Es ist eng, laut, wir bekommen
die Zimmer, verstauen irgendwo unsere Sachen und da fällt mir auf: Es ist noch nicht mal vierzehn Uhr und niemand will mehr was von mir, das heißt Mittagsschlaf! In unserem Zimmer sind noch zwei andere sehr nette Bergführer, die wir zusammen mit mehreren anderen Gruppen auf jeder Hütte treffen werden, was in dem ganzen Chaos auf den Hütten wirklich schön ist. Und noch etwas Positives: Niemand im Zimmer schnarcht.
Pünktlich zum Guide Apero wache ich wieder auf und bin gespannt, was da auf mich zukommt. Auf ca. 20 Bergführer (und eine (!) weitere Bergführerin) bin ich allerdings nicht vorbereitet. Genauso wenig wie auf den Weißwein, der großzügig ausgeschenkt wird und auf 3500m üNN ganz anders wirkt als im Tal. Alle reden durcheinander, sind super nett, tauschen Tipps und Verhältnisse aus und stellen sich einander vor. Ein wenig entsteht der Eindruck einer großen Familie. Nach diesem Spektakel gibt es sehr gutes Abendessen und ich begebe mich schnurstracks ins Bett.
Am nächsten Morgen bin ich schon fast an das frühe Aufstehen gewöhnt (wobei man als Bergführerin bei 5 Uhr Wecken vermutlich nicht meckern darf). Beim Frühstück erkundigen sich Walter und ich besorgt bei einer Teilnehmerin, der es am Vorabend schlecht mit der Höhe ging. Sie fühlt sich nun wunderbar, jedoch hat ein anderer Gast so starke Probleme mit dem Magen, dass er absteigen muss. Seine Frau begleitet ihn und ist so enttäuscht, dass sogar ein paar Tränen beim Abschied fließen. Verständlich, das Wetter ist perfekt und der Himmel spannt sich unendlich blau zwischen der weißen Spitze des Castors und dem Grün des Val de Veraz.
Als wir los stapfen ist es noch frisch und wir genießen den Fleck Sonne, der am Fuß des Castors liegt und den Schnee zum Glitzern bringt. Ich länge das Seil ab und die beiden verbliebenen Gäste klippen sich ins kurze Seil. Dann treten wir wieder in den Schatten. Am Anfang bin ich noch ganz schön aufgeregt; von unten sieht es sehr steil aus. Aber das Flattern in meinem Bauch legt sich irgendwo zwischen dem Platz, an dem ich die Steigeisen einer meiner Gäste anpasse und dort, wo ich bemerke, dass die Spur eigentlich eine Autobahn ist. Wir setzen rhythmisch einen Fuß vor den anderen, eine Serpentine, die zweite Serpentine und plötzlich gelangen wir aus der dunklen Flanke auf den gleißend hellen Grat. Die beiden freuen sich total und kommen wesentlich besser mit der scharfen Gratschneide zurecht, als gestern am Breithorn. Ich nehme ein paar Schlingen vom Abbund und wir gehen am Sprungseil zum Gipfel. Dort wartet die restliche Gruppe und auch ein anderer Bergführer der auf der gleichen Runde unterwegs ist. Alle sind wir ein wenig ergriffen.
Foto rechts: Auf dem Grat des Castor. Foto von Marko Paulat.
Lange bleiben wir allerdings nicht, sondern spazieren weiter am Sprungseil über den Grat in Richtung Quintina Sella. Dort angekommen gibt es ebenfalls einen ordentlichen Mittagsschlaf und einen Guide Apero. Dieses Mal mit noch mehr Wein und einem vollgedeckten Tisch mit Antipasti. Drumherum sitzen über dreißig Guides aller Altersstufen, davon wieder nur eine andere Frau. Es wird gespeist und natürlich unterschätze ich wieder den Wein. Deshalb kann ich die Freude über den perfekten Tag zusammen mit der Pasta (wieder keine Spaghetti) noch ein bisschen besser genießen.
Am dritten Tag machen wir die Höhenmeter gut, die wir am Tag zuvor vernichtet haben und biegen in einer langen Kurve in Richtung Lysnase. Dort rutscht mir das Herz einen Stock tiefer: Wo gestern noch eine Schneeflanke war, leuchtet blaues Eis im Morgenlicht und zwei Seilschaften gehen darüber am kurzen Seil hinweg. Das will ich auf keinen Fall machen. Die nächste halbe Stunde verbringe ich mit meinen Sorgen und bestärke mich selber darin, den kleinen Felsgrat und das darauffolgende Blankeis gestaffelt, also in kurzen Seillängen, zu gehen. Als wir ankommen, pfeift der Wind mit voller Kraft. Die nächsten Seilschaften gehen alle gestaffelt und bestätigen damit meine Einschätzung. Meine Erleichterung, mich nicht als Angsthase outen zu müssen, entlädt sich in neuer Motivation. Ich merke, dass der Felsgrat genau das bietet, was ich kann und mir Spaß macht. Meine zwei Gäste bewegen sich geschmeidig und genießen trotz des Windes die Kraxelei. Als wir im Eis ankommen, sprechen wir uns mit einer anderen Seilschaft ab und es flowt so richtig. Zwei Stände an Eisschrauben, einer am Ende einer herausragenden Stahlstange und der letzte an
einem offenen T-Anker, dazwischen Intervalltraining. Dann begehen wir den abschließenden Hang schon wieder im besten Trittfirn am kurzen Seil und ducken uns hinter den Gipfelgrat.
Foto unten links: Oben auf der Lisnase. Foto von Walter Obergolser.
Foto unten rechts: Im Ausstieg von der Lisnase. Foto von Anna Gomeringer.
Dort können wir auch wieder die Sonne genießen. Wir beginnen trotzdem schnell den Abstieg, denn wir wollen noch zwei kleine Gipfel, das Balmenhorn und die Vincentpyramide, dran hängen. Die Sonne brennt auf uns herab und ich habe das Gefühl durch Sirup zu gehen. Ich setze einen Fuß direkt vor den anderen, aber einem Gast macht die Höhe zu schaffen und egal wie langsam ich laufe, es ist zu schnell. Wir kommen irgendwann am Balmenhorn an und schauen uns eine Weile das Chaos an der kleinen Klettersteigpassage an. Schließlich findet sich eine Lücke, aber als mir beim Ablassen der Gäste zwei Leute einfach reinklettern muss ich mich ein bisschen ärgern.
Dann geht es endlich Richtung Gnifetti. Auch der Abstieg dahin zieht sich im aufgeweichten Schnee. Endlich angekommen ist es schließlich noch chaotischer als auf der Guide d’Ayas, mit dem Unterschied, dass die Wirtsleute ausgesucht unfreundlich sind. Das Essen und der Kuchen schmecken trotzdem und so können wir uns in den dreifach (!) Stockbetten für den nächsten Tag ausruhen.
Der vierte Tag bietet dann einiges an Abwechslung mit ausgesetzter Kraxelei an Graten und viel Sonne. Am Schwarzhorn werde ich Zeuge, wie einer der Bergführer aus dem Zimmer in der Guide d’Ayas eine Seilschaft zurecht weißt, die sich prekär über ihm abseilt und ihn so gefährdet. Ich muss an die Situation am Balmenhorn gestern denken und merke, dass ich in Sachen „meine Bergführerin stehen“ noch einiges lernen muss.
Foto rechts: Schwarzhorn. Foto von Ariane Dorn-Keller.
Und dann passiert es: Im Abstieg von der Parrotspitze rutscht ein Gast aus und hängt in meinem kurzen Seil. Ich stehe da und merke, dass ich es halten kann! Immerhin hechtet mein Gast auch nicht mit vollem Elan ins Seil, wie es in den Übungen der Bergführerinnenausbildung der Fall ist. Ich weiß, dass es normal ist solche Rutscher zu halten, aber eine Welle Stolz brandet durch mich hindurch und mein Vertrauen in mich und die Sicherungsform kurzes Seil wächst ein kleines, aber wichtiges Stück.
Wir überlegen am Ende genau, ob wir noch auf die Zumsteinspitze wollen, ringen uns durch und werden mit einem 360° Panorama belohnt, bei dem wir auch einen genauen Blick auf die Dufourspitze, den höchsten Berg der Schweiz, erhaschen können. Vor dem letzten Anstieg Richtung Capanna Margherita fürchten wir uns ein bisschen, aber wir merken, dass wir mittlerweile wunderbar akklimatisiert sind und es erstaunlich gut geht. Oben angekommen setze ich natürlich erstmal meine Tradition fort und will einen entspannten Mittagsschlaf machen. Dazu schaue ich aus dem Fenster, eigentlich um mich zu beruhigen und mir zu sagen, dass die Hütte gar nicht so ausgesetzt steht. Dummer Fehler, es geht bestimmt 1500hm in die Tiefe und mir dreht sich kurz der Magen um. Das ist eine Erfahrung! Ich wiederhole mantraartig, dass die Hütte hier auch noch einen Tag länger steht und schlafe mit nur leicht erhöhtem Puls ein.
Foto unten links: Capanna Margherita. Foto von Ariane Dorn-Keller.
Foto unten rechts: Blick von Capanna Margerita Richtung Dufour. Foto von Ariane Dorn-Keller.
Wir feiern noch gebührend den letzten Abend, mit Wein, gutem Essen, Kartenspielen und einem spektakulären Sonnenuntergang. Lang hält es allerdings niemand aus, denn der letzte Tag hat es nochmal in sich.
Am nächsten Morgen bin ich erstaunt, wie gut ich geschlafen habe und die ersten paar Meter in der hellblau goldenen Morgenstimmung gehen sich fast von alleine. Mir wird zum hundertsten Mal auf dieser Runde bewusst, wie privilegiert ich bin, mich in so einer Landschaft bewegen zu dürfen und ich platze fast vor Glück, dass dies zu meinem Arbeitsplatz werden wird.
Mit der steigenden Sonne verschwinden aber alle hochtrabenden Gedanken und spätestens nach der Monte Rosa Hütte zieht sich der Weg in der prallen Sonne gewaltig. Den Gegenanstieg bewältigen wir dann nur noch, weil wir so viel dummes Zeug reden. Endlich am Rotenboden angekommen, überfahren uns die vielen Touristen vollkommen. Wir quetschen uns in die Zahnradbahn und ich komme gar nicht ganz hinterher, so schnell verabschieden sich alle in Zermatt und in Herbriggen. Die ganze Gruppe ist ein bisschen wehmütig, ich bin im Kopf noch dreitausend Meter höher und möchte am liebsten sofort die nächste Tour dranhängen.
Foto rechts von Ariane Dorn-Keller.
Foto oben: Auf dem Weg zur Lisnase. Foto von Ariane Dorn-Keller.
Aber ich darf weiter zu meinem nächsten Kurs und davor noch einen Tag Pause bei einer Freundin machen. Erst wie ich da herum hänge wird mir so richtig klar, dass das alles gerade wirklich passiert ist. Meine erste Führungstour. Vielleicht werde ich ja jetzt eine echte Bergführerin? Wer hätte das gedacht. Und wer hätte gedacht, dass ich Hochtouren irgendwann mal so toll finde? Ich sicher nicht. Aber jetzt weiß ich, dass es auf der Spaghettirunde zwar keine Spaghetti gibt, jedoch reichlich Pasta. Und das reicht eigentlich.