Text von Ulligunde
Ich kann es nicht fassen. Muss schreien und jubeln - immer wieder. Ich kann es einfach nicht fassen! Wie oft war ich heute schon überzeugt, dass wir die Chance verpasst haben? Und jetzt stehen wir hier! Jubeln, was das Zeug hält. Wie viel Freude kann ein einfacher Grashügel im Norden Indiens ermöglichen?!
Träume sind Gold. Sie sind wertvolle Wegweiser. Wer mit Hobbies wie dem Alpinklettern, Bergsteigen oder Gleitschirmfliegen beginnt, hat oft so einen geheimen großen Traum. Einmal auf dem Cerro Torre stehen, einmal die Nose klettern, einmal einmal nach einer Route durch die Südwand von der Marmolada ins Tal fliegen - irgendwie sowas. Als ich mit Gleitschirmfliegen begann, war schon immer dieser Traum vom Biwakfliegen in mir. Irgendwo starten, mit Hilfe von thermischen Aufwinden an einen anderen Berg fliegen und dort wieder sanft einlanden. Wie surreal das sein würde! Man steht an einem Gipfel, den man weder zu Fuß noch mit einer Bahn erreicht hat. Dort dann ein Zelt aufschlagen, die Abendstimmung genießen, die Stille, die Freude. Ich bekomme Gänsehaut, wenn ich daran denke.
Indien ist für viele Piloten der Inbegriff des Biwakfliegens. In den hohen Bergen, fernab jeglicher Zivilisation, tief verbunden in der Natur, allerdings auch mit höchster Anforderung an Können und Erfahrung. Ganz klar: Das übersteigt gleich um mehrere Hausnummern mein Niveau. Aber auch in der näheren Umgebung des Startplatzes in Bir, einem kleinen Dorf nahe der tibetischen und pakistanischen Grenze in der Region Himachal Pradesh, gibt es vereinzelt Grashügel, die sich zum Einlanden mit dem Gleitschirm eignen. Sie erfordern nicht allzu viel Flugkönnen und doch ist die Sache bei weitem nicht ohne Risiko. Immer wieder passieren beim Einlanden schwere Unfälle, was in Indien mit einer nahezu inexistenten Rettungskette gravierende Folgen haben kann. Sollte man es dann vielleicht einfach lassen? Wo ist die Linie zwischen Selbstüberschätzung und Selbstlimitierung? Tun oder nicht tun? Ich spürte lange hin und kam immer wieder zum Schluss: Allein traue ich mir es nicht zu. Auf der anderen Seite gingen mir die Tage aus. Soll es wohl einfach nicht sein?
Wie oft in solchen Situationen fügten sich die Dinge von selbst. Ich kam mit Bertram ins Gespräch, ein Mensch, der nicht nur ähnliche Flugerfahrung hatte, sondern ebenso in sich den Traum des Biwakfliegens trug. Er war sofort motiviert, hatte aber selbst nur noch zwei Tage bis zu seinem Heimflug nach Deutschland. Und doch standen wir nur einen Tag später schwer beladen am Startplatz: Im Gurtzeug waren Wasser, Zelt, Kocher, Matte und Schlafsack verstaut und noch dazu in meinem Fall kleine Luxusgüter wie eine minimalistische Aquarell Ausrüstung.
Foto rechts: Minimalistische Aquarell-Ausrüstung. Ein bisschen Luxus musste sein!
Es war schon sehr spät in der Saison, die Wolkendecke war jeden Tag etwas niedriger gesunken, der Wind, der hier die letzten Wochen das Abheben erleichterte, war inzwischen komplett eingeschlafen. Würden wir auf diese Weise überhaupt bis an unseren anvisierten Biwakplatz kommen? Es war ganz klar unsere einzige Chance heute. Wir waren nervös, wollten es beide unbedingt und wussten gleichzeitig, dass es Glück brauchen würde, dass unser Plan aufging. Bertram startete, hob trotz des vielen Zusatzgepäcks tatsächlich ab. Doch sofort war zu sehen, dass etwas nicht stimmte. Beim Aufziehen des Segels hatten sich Leinen verfangen. Während mein Kompagnon versuchte, das Problem zu lösen, sank er immer tiefer in Richtung Tal. Keine allzu gefährliche Situation, aber gleichzeitig war klar, dass bei diesen stabilen Bedingungen ein Einstieg in die thermischen Aufwinde immer schwieriger wird, je tiefer man ist. Ich beobachtete alles vom Startplatz, sah wie Bertram arbeitete, und begann zu akzeptieren, dass der große Traum nicht wahr werden wird. Ich war enttäuscht und gleichzeitig auch ein Stück weit erleichtert, doch kein Risiko eingehen zu müssen. Während ich die neue Situation versuchte zu akzeptieren, schnalzte Bertrams Flügel plötzlich auf und schon kurbelte er gekonnt in Richtung Wolkendecke. Wird es doch noch wahr?! Ich startete und traf ihn am Rand der Wolke - sie hing unheimlich tief. Was, wenn der Biwakplatz in Wolken ist?
Wir glitten in Richtung Westen, reizten jede Thermik bis in die Wolke hinein aus, flogen möglichst defensiv, um ja nicht doch noch zu tief zu kommen.
Bertram flog mit erstaunlicher Zielsicherheit die Thermiken an, kurbelte auf, flog weiter, kurbelte wieder auf. Wie findet er diese Aufwinde so präzise?! Unser Biwakplatz kam in Sicht, er war tatsächlich unterhalb der Wolken. Allerdings doch eher knapp. Nochmal volle Konzentration, jetzt bloß keinen Fehler machen. Von oben sah ich, wie Bertram direkt auf den ersten Versuch sanft einlandete, ich setze kurz nach ihm an und spürte die Sensoren durch: Das könnte klappen. Das könnte wirklich klappen! Der Wind war ideal, die Landung gut und dann war da nur noch unfassbare Freude. All die Anspannung fiel auf einmal ab, all das Bangen und Hoffen der letzten Tage und Stunden, der Traum war wirklich wahr geworden! Wir zwei kleinen Anfänger standen mitten im indischen Gebirge auf einem Hügel, es war wie ich es mir vorgestellt hatte: Komplett surreal. Ich konnte es nicht fassen. Nur wenige Minuten später schlief der Wind vollends ein, die Wolken verschluckten unseren Berg. Wir hatten das perfekte Timing erwischt.
Foto rechts: Unterwegs nur mit der Kraft der Natur. Foto von Johanna Elsner.
Als wir Stunden später an einem Lagerfeuer saßen, umwaberten uns immer noch die Wolken und gaben nur manchmal den Blick auf die Sterne frei. Noch immer konnte ich es nicht fassen. Wir waren in Indien. Saßen als einzige an diesem Berg. Schauten ins Feuer, lauschten der Stille. Unfassbare Freude im Herzen.
Und dann erzählte Bertram, weshalb er die Thermiken so zielsicher fand: Ein Geier hatte ihn den gesamten Weg begleitet und ihm den Weg gezeigt. Wie viel Magie kann es geben?
Empfohlene Ausrüstung
Über Ulligunde
Hinter dem Spitznamen Ulligunde steckt Erika Dürr. Erika kommt ursprünglich vom Bodensee und wohnt mittlerweile im Allgäu.
Ihr alpinistischer Weg führte sie vom Wandern zum Hochtourengehen und schließlich zum Gleitschirmfliegen. Außerdem ist sie gerne mit ihrem Gravelbike unterwegs.
Neben ihrem Blog betreibt Ulligunde auch aktiv einen Podcast, in dem sie mit bergbegeisterten Persönlichkeiten über deren Erlebnisse und Erfahrungen spricht.